Es ist heiß im Meraner Talkessel. Der Sommer zeigt sich von seiner besten Seite, die Sonne strahlt hell und eine Hitzewelle legt sich übers Land. Jetzt lockt es in die Sommerfrische und die Ferien können in der Fahlburg bei Prissian in höheren Lagen genossen werden. Dort oben ist die Luft frischer und der Geist freier, hier kann man sich ausruhen, studieren, sich den schönen Künsten widmen. Aber, nein, dies ist nicht der Sommer 2022 und wir befinden uns auch nicht im 21. Jahrhundert. Für diese besondere Sommerfrische begeben wir uns ans Ende des 16. Jahrhunderts, als Jakob Andrä von Brandis, Vertrauter von Erzherzog Maximilian III., sich auf die Fahlburg zurückzog, um sich zu erholen, zu studieren und sich der Literatur zu widmen. Während seines Rückzugs in die Sommerresidenz verfasste der intellektuelle und geschichtsbegeisterte Graf ein umfangreiches Manuskript über die Geschichte der Grafschaft Tirol, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf der geopolitischen Landkarte Europas von großer Bedeutung war. Der kuriose, aber signifikante Titel: Caniculares Jacobi Andrae Baronis de Brandis. Das zweibändige Werk monumentalen Charakters beinhaltet auch Abbildungen – gezeichnete Zeugnisse von Adel und Macht, aber auch von Architektur, Kunst und Schönheit, welche die Leser*innen bei der Entdeckung der Grafschaft begleiten.
Der Codex Brandis
Es wird vermutet, dass Graf Brandis so die Idee hatte, eine Serie von Bildtafeln der Burgen im Burggrafenamt, im Vinschgau, im Oberinntal, im Etschtal und in einem Teil des Trentino in Auftrag zu geben. Der unbekannte Kartograph wird wahrscheinlich einen weit abenteuerlicheren Sommer verbracht haben als Graf von Brandis in seiner Sommerfrische. Es wird ihn viel Zeit und Mühe gekostet haben, vermutlich zu Fuß von Tal zu Tal, von hier nach dort zu wandern und in unzähligen Strichen festzuhalten, was seine Augen erfassten – zart sind die Linien, aber voller Ausdruck. Die Landschaften sind mit Bergen, Hügeln und Wasserläufen gerahmt, in ihrer Mitte thronen die erhabenen Hauptdarsteller: Bastionen, Türme, Brücken und Schlosstore – eindeutige Hinweise der Machtverteilung in der Grafschaft sowie Zeugen des adligen Lebens jener Zeit. Die historisch wertvollen Zeichnungen sind im sogenannten „Codex Brandis“ gesammelt und ermöglichen uns heute einen umfassenden Blick auf das Land Tirol, das damals auf dem Weg in die Moderne in der Begegnung von Barock und italienischer Renaissance seinen geistigen, kulturellen und architektonischen Reichtum entwickelte.