Die Belle Époque. Was fasziniert Sie daran so sehr?
Mich fasziniert Merans Belle Époque, weil unser heutiges Meran den „gedankenschweren Köpfen“ (Ulrike Kindl) Gutes und Bleibendes zu verdanken hat. Die Zeit von 1870 (erster Aufenthalt von Kaiserin Elisabeth) bis 1914 (Eröffnung des neuen Kurhauses) war in Meran ein Brutkasten der Moderne: Die Gasbeleuchtung (1873) und die Elektrizität (1898) tauchten die Lebenswelt der Menschen buchstäblich in ein neues Licht. Das Fauchen der Lokomotiven, das Rattern der Straßenbahnen und das Kratzen der Grammophone veränderten den Soundtrack des Alltags. Es war eine nervöse Zeit – zugleich wurde die Freizeit „erfunden“. Die Kurstadt Meran wurde zum Freizeitrefugium für die Creme der Gesellschaft, weihte sich den Segnungen der modernen Medizin. Ärztekongresse und umtriebige Doktoren sorgten dafür, dass die Gesundheitspflege auf dem neuesten Stand war. Meran war ein Tummelplatz für Menschen mit unterschiedlichen Krankheiten, ja es war nachgerade ein „Zauberberg“. Da Merans Paradekurmittel die Traubenkur war, können wir augenzwinkernd von einem „Zauber Weinberg“ sprechen.
Nennen Sie uns einige Kuriositäten der Meraner Stadtgeschichte?
Da wäre der Schloaf-Eva-Umzug aus spätmittelalterlichen Tagen. Benediktinerpater und Heimatkundler Beda Weber erzählt, dass Merans Fleischhauer bei diesem Umzug einen ihrer Zunftbrüder zur Handwerksprobe auf einer Stange, geschmückt mit Kuhschweifen, durch die Stadt trugen. Der Mann wurde in einen Brunnen geworfen und durfte die Umstehenden mit den Kuhschweifen bespritzen. Ein weiteres Histörchen: Im 19. Jahrhundert wollte ein Meraner Musiker Erzherzogin Gisela, Tochter von Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth, eine Polka-Komposition widmen. Da die Übermittlung dieser Widmung abschlägig beschieden wurde, köpfte der Musiker im Zornesrausch einige Rosenhecken an der Winterpromenade und warf Sitzbänke in die Passer. Ein handelsübliches Operetten-Narkotikum hätte ihm wohl gut getan: „Glücklich ist, wer vergisst…“
Gibt es eine typische Meranerin, einen typischen Meraner?
Wir Meranerinnen und Meraner sind das Produkt zahlreicher Migrationen. Schon im Mittelalter gab es in Meran eine winzige italienischsprachige Community. Mit dem Tourismus kamen im 19. Jahrhundert Kurgäste in die Stadt. „Fremde schufen Meran“ (Paul Rösch), sie prägten das Weichbild der Stadt, hauchten Merans Alttiroler Seele einen internationalen Charme ein. „Typische“ Meranerinnen und Meraner gibt es nicht: Sie setzen sich wie eine Zwiebel aus vielen (Ge)schichten zusammen. Es fällt ihnen nicht schwer, sowohl in der deutschen als auch in der italienischen Kultur „beheimatet“ zu sein. Sie leben die Weltoffenheit, die der jüngeren Stadtgeschichte erwächst. Meran ist – ohne salbungsvoll klingen zu wollen – ein kleines Drehkreuz der Kulturen im Herzen Europas. Mehr noch: Meran ist ein Gefühl.
Wohin verschlägt es Sie im Meraner Frühling?
Auf den Tappeinerweg! Diese schmucke Höhenpromenade mit Panoramagarantie ist gleichsam ein Diadem, das Meran überragt. Gestiftet wurde der erste Abschnitt dieser Promenade von Franz Tappeiner. Er war eine der Portalfiguren der Meraner Belle Époque – das ist jene „Sattelzeit“ im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in der aus einem verschuldeten Aschenputtelstädtchen eine elegante Dame von Welt wurde. Gemeinsam mit weiteren visionären „Machern“ kurbelte Tappeiner den Kurtourismus an. Immer wieder sorgte er sich um die Gesundheit der Bürger. Als 1855 die Cholera ausbrach, verfasste er einen Aufruf, um die Bevölkerung faktenbasiert zu informieren. Das ist Public Health in Reinkultur! Sein Lebenswerk krönte er mit dem nach ihm benannten Weg, der als Parcours für die Terrainkur entstand; eine Bewegungstherapie bei Übergewicht und Kreislaufbeschwerden.
Ihre Lieblingsorte in der Stadt?
Die Villa Freischütz in Obermais! Das Gebäude aus der Spätzeit Kakaniens beherbergt ein Hausmuseum, das die frappierende Geschichte der Familie Fromm erzählt. Franz Fromm, seines Zeichens preußischer Weinhändler in Katalonien, war leidenschaftlicher Kunstsammler und Feingeist. Nach dem Tod seiner Frau zog er nach Meran und kaufte die Villa Freischütz, in der Kunst und Kuriositäten aus aller Herren Länder noch heute Merans Internationalität zelebrieren. Ein weiterer Lieblingsort ist die verträumte Gilfpromenade mit ihrem schäumenden Wasserfall. Stefan Zweig sprach vom „mächtig aufschwellenden Rauschen“ dieses Wassersturzes und von seinem „sinnlosen Tönen in eine schweigendblaue Landschaft hinein“.
Was ist völlig unterbewertet in Meran?
Mein heimatliches Stadtviertel Untermais fristet zumeist ein stiefmütterliches Dasein. Es ist verkehrsgeplagt und doch reich an Kultur. Das schmucke Villenviertel zwischen Romstraße und Winkelweg kündet von der Zeit, als Untermais ein lachender Garten für Erholungsuchende war. Der größte Kunstschatz findet sich jedoch in einer Kirche, die felsengleich der Brandung des Autoverkehrs trotzt: Die Maria-Trost-Kirche ist mit ihren beeindruckenden Fresken wahrlich ein kleines Byzanz!
In welcher Epoche, außer jetzt, hätten Sie gerne in Meran gelebt?
Gewiss im ausklingenden 19. Jahrhundert. Die Vorstellung, mit Schirm, Charme und Melone am Passerufer zu promenieren, nimmt sich reizend aus, schmeckt jedoch nach süßer sozialer Illusion. Wohl wäre ich als flinkes „Maltabübl“ auf einer Baustelle, als vor sich hin grantelnder Tramfahrer oder als zuvorkommender Dienstmann tätig gewesen – der Zugang zu den erlauchten Kreisen der Kurstadt wäre mir als Proletarierkind verwehrt geblieben. Ich hätte versucht, mich in der aufkeimenden Gewerkschaftsbewegung zu engagieren. In Büchern und Reiseführern stehen bloß die Namen der Stadtväter und Architekten, der Künstler und Bauherren. Diejenigen, die Merans Prunkhotels, die Villen oder das Kurhaus im Schweiße ihres Angesichtes erbauten, bilden eine Schar Namenloser. Frei nach Brecht könnten wir fragen: „Wohin gingen an dem Abend, wo das Stadttheater fertig war, die Maurer?“
Welche Meraner Persönlichkeit hätten Sie gerne zum Baden in die Passer entführt?
Vielleicht mit Bernhard Mazegger senior. 1798 im Obervinschgau geboren, studierte er Medizin in Padua und Wien, erkannte die klimatisch günstige Lage Merans und betrieb ab 1840 den Freihof, die erste große Fremdenpension Merans. „Völkerrast“ nannten die Meraner das Haus halb im Scherz, halb im Ernst. Bekannt war der Freihof wegen seiner eiskalten Bäder, immerhin war das Haus ja eine „Kaltwasserheilanstalt“. Mit Mazegger würde ich gerne in der Passer baden, um eine Antwort auf eine Frage zu finden, die mich seit Langem umtreibt: Welches Wasser ist denn nun kälter – jenes in Mazeggers Wanne oder doch jenes der Passer?
Mit wem hätten Sie gerne im Café philosophiert?
Gewiss mit den beiden Kurärzten Franz Tappeiner und Raphael Hausmann. Der eine brachte die Terrainkur nach Meran, der andere widmete sich der medizinischen Weiterentwicklung der Traubenkur. Ich hätte mich mit ihnen über ihre Zukunftsideen für Meran unterhalten. Die
Tourismuspioniere des 19. Jahrhundert – und diese beiden Ärzte gehörten dazu – waren Visionäre. Welche von ihnen geschmiedeten Pläne wurden umgesetzt? Was wäre heute noch auf die politische und touristische Agenda zu setzen? Die „vergangene Zukunft“ (Reinhart Koselleck) hat mich schon immer interessiert.
Was würden Sie Kafka heute zeigen wollen?
Die Passerterrassen, um ihm die Wasserscheu zu nehmen. In einem Brief an „seine“ Milena Jesenská schreibt Franz Kafka im Mai 1920: „Sie sind sehr sonderbar Frau Milena, Sie leben dort in Wien, müssen dies und jenes leiden und haben dazwischen noch Zeit sich zu wundern, dass es andern, etwa mir, nicht besonders gut geht und dass ich eine Nacht ein wenig schlechter schlafe als die vorige. Da hatten meine hiesigen 3 Freundinnen (3 Schwestern, die älteste 5 Jahre alt) eine vernünftigere Auffassung, sie wollten mich bei jeder Gelegenheit ob wir beim Fluss waren oder nicht, ins Wasser werfen.“ Hätte es damals schon die Passerterrassen gegeben, wäre der „Beamte aus Prag“ wohl mit sanfter Resignation ins Wasser geglitten – und wäre somit dem nassforschen Angriff der Mädchen zuvorgekommen. Selbst ist der Franz.
Was lieben Sie als Stadtführer an den Führungen besonders?
Ich liebe es, mit den Gästen in Interaktion zu treten. Nicht als aseptischer „Stadtbilderklärer“, sondern als Vermittler von Stimmungsbildern. Jede Zeit hat ihre Bewusstseinskomplexität. Wer heute den riesigen Christophorus an der südlichen Außenwand der Meraner Stadtpfarrkirche erblickt, fühlt nicht das, was ein Betrachter der Frühen Neuzeit gefühlt haben muss. Für diesen war der Heilige ein Beschützer vor dem unbußfertigen Tod. Die Geschichte ist kein simpler Zeitstrahl, sie ähnelt eher einer atemlosen, von wechselnden Farben und Eindrücken begleiteten Fahrt mit Rilkes Karussell. Und dann und wann taucht gar ein weißer Elefant auf – selbst in Meran.
Die Top-five, die Ihrer Meinung auch in 100 Jahren noch Meran bereichern sollen?
1. das gelebte Bekenntnis zu Toleranz und Weltoffenheit
2. die Kulturverliebtheit der Meranerinnen und Meraner
3. die gastfreundliche Eleganz dieser „feingliedrigen braut des suedens“ (N. C. Kaser)
4. die liebevolle Pflege der öffentlichen Parks und privaten Gärten
5. der Mut, in historischen Umbrüchen Aufbrüche für die Stadt zu erblicken