Liebeserklärung an die Natur
 Pflanzen haben eine ganz spezielle Ausstrahlung und Wirkung, die Begegnung mit ihnen erdet mich – es fällt schwer, unaufmerksam zu sein, wenn man unterwegs ist auf der Suche nach Beeren oder Blumen, Pilzen oder Kräutern. Behutsam und konzentriert wandere ich durch die Natur, setze vorsichtig Schritt vor Schritt, Blattformen und Pflanzenstrukturen beobachtend, auf der Suche nach einem silbernen Schimmern auf der Unterseite einer Ranke, nach dem einen ganz bestimmten Grünton, nach einem glatten, tränenförmigen Blatt oder einer fünfblättrigen Blüte, golden wie die Sonne. Wenn man dann Blätter und Blüten sanft zwischen Daumen und Zeigefinger zerreibt, werden unerwartet Düfte, Säfte und Farben frei.
Sowie ich den Wald betreten hatte, entdeckte ich eine vertraute Freundin: die Große Brennnessel, Urtica dioica. Diese für ihre zahlreichen kulinarischen Verwendungsmöglichkeiten bekannte Pflanze ist eine wahre Fundgrube an Nährstoffen, vergleichbar eisenhaltig wie Spinat und Grünkohl, reich an Zink, Magnesium und überraschend vielen Proteinen. Obwohl sie im Sommer oft weniger beachtet wird, weil ihre Blätter zäh werden, bleibt sie dennoch vielseitig verwendbar: Die langen Stängel kann man schälen, trocknen und zu soliden Seilen flechten. Die Brennnessel ist auch Protagonistin einiger Erzählungen, etwa in Hans Christian Andersens Märchen Die wilden Schwäne, in dem eine Prinzessin aus Brennnesseln Hemden webt, um ihre in Schwäne verwandelten Brüder von einem Zauber zu befreien. Der Film The Nettle Dress von Dylan Howitt hingegen erzählt die außergewöhnliche Geschichte des
Textilkünstlers Allan Brown, der über sieben Jahre in Handarbeit ein Kleid ausschließlich aus Brennnesselfasern herstellt. Brennnesselsamen sammle ich ebenfalls im Sommer: In den frischen wälze ich handgemachte Schokoladentrüffel, getrocknet verwende ich sie für Müsli, Brot, Kuchen und Kekse. Die Samen sollen eine antioxidative, entzündungshemmende
und stimulierende Wirkung haben.
Unkraut essen
In der Höhe wachsen bestimmte Pflanzen auch im Sommer noch reichlich und, obwohl sie oft als Unkraut bezeichnet werden, sind viele dieser Pflanzen sehr nützlich für Hausapotheke und Küche. Die Strahlenlose Kamille, Matricaria discoidea, hat eine niedere Wuchshöhe, ihre Blüten ähneln denen der Echten Kamille, haben aber keine weißen Zungenblüten und duften beim Zerdrücken leicht nach Ananas. Sie gedeiht oft unbeachtet am Wegesrand, manchmal ist ihr Duft bemerkbar, bevor man sie sieht. Blütenköpfe und Blätter sind vielseitig verwendbar: roh in Salaten, gekocht mit Obst, als Sirup oder Tee, in Milch eingelegt, um Desserts wie Panna Cotta zu verfeinern – am besten mit Walderdbeeren serviert.
Als Nächstes treffe ich bei meiner Kräuterwanderung auf den Wiesen-Bärenklau, Heracleum sphondylium, eine überraschend vielseitige und nahrhafte Pflanzengattung der Familie der Doldenblütler: Die jungen Blätter und Frühlingssprossen können wie griechische Chorta gedünstet werden, die Knospen sind in Teig getaucht und frittiert eine Delikatesse. Die grünen Samen erinnern an den Geschmack von Kardamom und eignen sich besonders gut für Kekse oder Kardemummabullar, den typischen schwedischen Kardamomschnecken, getrocknet verleihen sie Eingelegtem und Gewürzmischungen das gewisse Etwas. Der Name geht wahrscheinlich auf das slawische Wort Borschtsch für Wiesen-Bärenklau zurück, da die jungen Blätter und Sprossen im Mittelalter fester Bestandteil der gleichnamigen, typischen Suppe waren.

Süß träumen
Der nach der Göttin Artemis benannte Beifuß bzw. Artemesia vulgaris galt bei den Druiden als eines der neun heiligen Kräuter, die sie für Heilpraktiken und spirituelle Rituale einsetzten. Im antiken Griechenland diente der Beifuß als Symbol für die Verbindung zwischen Menschlichem und Göttlichem zum Verständnis von Mondzyklen, Fruchtbarkeit und Wahrsagungen und zum Schutz. Auch im alten Rom achtete man ihn: Soldaten und Reisende legten seine Blätter in die Schuhe, um Erschöpfung vorzubeugen und lange Märsche durchzustehen. In vielen indigenen Kulturen wird Beifuß als heiliges Kraut verehrt, das die Traumerfahrung intensiviert und die Verbindung mit der Welt der Geister und Ahnen ermöglicht, geräuchert soll es zu lebendigeren Träumen beitragen und die Fähigkeit verbessern, sich an Träume zu erinnern. Ich bereite mir aus Beifuß oft einen Aufguss zu, um nach dem Abendessen die Verdauung anzuregen und hoffentlich meinen eigenen Sommernachtstraum zu haben.

Heilmittel der Sonne
Dem Johanniskraut, Hypericum perforatum, wird nachgesagt, Fieber abzuwehren, Liebe anzulocken, vor Feuer und bösen Geistern zu schützen. Seine goldgelben, fünfblättrigen Blüten faszinieren seit vielen tausenden Jahren: Beim Zerreiben hinterlassen sie eine rote Färbung, die so typisch für das Johanniskrautöl ist, das bei Muskelschmerzen, Verbrennungen und Schnittwunden hilft. Bei meiner Wanderung habe ich eine ganze Wiese voll davon entdeckt. Angeblich soll, wer nach Sonnenuntergang auf Johanniskraut tritt, von einem geheimnisvollen Pferd entführt werden – mir ist das noch nie passiert, aber vielleicht euch ...? 
 
Hüterinnen der Grünen Weisheit
Bei einer Kräuterrunde durch Lana und Umgebung trifft man nicht nur auf eine immense Pflanzenvielfalt, sondern auch auf die Hüterinnen dieser lokalen Kräuterkunde und dieses alten
Wissens. Auf dem Roachhof in Völlan lebt Thea Holzner Frei, ehemalige Lehrerin, FNL-Kräuterexpertin, FNL-Kräuterexpertin für Kinder und Jugendliche, FNL-Knospenexpertin und Mitglied der Südtiroler Kräuterpädagogen (FNL steht für Freunde naturgemäßer Lebensweise). Bei einer Führung durch ihren Haus- und Kräutergarten sowie Kastanienhain können Interessierte verschiedene Kulturpflanzen und Heilkräuter, deren Verwendungsmöglichkeiten in der Küche und Einsatz in der Volksheilkunde kennenlernen. Im anschließenden Workshop besteht die Möglichkeit, einige Produkte, wie Kräuteraufstriche mit Quark oder Ricotta, Tinkturen, Salben und anderes mehr, selbst herzustellen und bei einer Jause Kräuterblütengetränke, selbstgebackenes Brot und Aufstriche zu verkosten. Zu Theas Lieblingskräutern zählt die Zitronenmelisse, die in vielen Gärten wächst, wild jedoch kaum vorkommt: Sie kann für Kräutertees oder Tinkturen, mit anderen Kräutern aufgemixt für grüne Sommergetränke sowie als Beigabe in Salaten oder Desserts verwendet werden.
In Pawigl pflanzt Hildegard Winkler am Wieserhof in ihrem Kräutergarten viele Kräuter an. Der angrenzende Sinnesweg mit Blumen, Sträuchern, Kräutern, Wildkräutern, Kunstwerken
und Sitzbänken führt bis zum Waldesrand und lädt zum Riechen, Sehen, Spüren, Hinsetzen und Erleben ein. Zu ihren Lieblingen gehört jede Art von Salbei: gegen Müdigkeit und Erschöpfung, bei Halsschmerzen als Tee gegurgelt. Diese Pflanze enthält viele Gerbstoffe und ist deshalb auch ein gutes Mittel zum Räuchern und Klären von negativen Energien.
Im Rahmen des Frühlingsevents Lana blüht lädt Anni Pircher zu Wildkräuterwanderungen ein, die der Chefkoch Christian Pircher in seinem Restaurant Kirchsteiger mit feinen Kräuter- und Blütengerichten abrundet.

Nachhaltig und achtsam Sammeln
In einigen Sprachen bedeutet der Begriff Pflanze übersetzt „diejenigen, die sich um uns kümmern“. Auch wir sollten uns um diese grünen Verbündeten kümmern. Hier einige Tipps für achtsames und nachhaltiges Suchen und Sammeln:
1. Nur das mitnehmen, was man wirklich braucht: Geringe Mengen sammeln, auch den Tieren und anderen Sammelnden etwas übriglassen.
2. Unkraut essen: Reichlich vorhandene oder invasive Pflanzen zu pflücken ist sowohl für die Natur als auch für den Erhalt der Biodiversität von Vorteil.
3. Gesetze und Vorschriften beachten: Niemals in Schutzgebieten oder ohne Erlaubnis auf Privatgrundstücken sammeln.
4. Darauf achten, wo gesammelt wird: Das Sammeln im urbanen Raum ist mittlerweile beliebt, dabei ist aber einiges zu beachten, wie etwa Orte zu meiden, wo intensive Landwirtschaft betrieben wird oder Schadstoffe den Boden belasten, wie beispielsweise in der Nähe von Hundeauslaufplätzen.

Alle in dieser Reportage erwähnten Pflanzen wachsen reichlich und sind gut erforscht. Es empfiehlt sich jedoch immer ärztlichen Rat einzuholen, bevor Pflanzen medizinisch verwendet
werden, und besonders in der Schwangerschaft auf angemessenes Anwenden zu achten. Und immer gilt: Nur Bekanntes sammeln!
 
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