Sollte es regnen, schaut in die Weite
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Sollte es regnen, schaut in die Weite

Unterwegs in Meran und Umgebung

In der Einleitung von Die Verlobten verwendet Alessandro Manzoni einen literarischen Kunstgriff und erklärt, dass die zu erzählende Geschichte die Abschrift eines Manuskripts aus dem 17. Jahrhundert sei. Manzoni greift auf diese List zurück, um sich hinsichtlich der kritischen Betrachtung historischer Ereignisse, die sich zwei Jahrhunderte nach Entstehung seines Meisterwerkes auf ähnliche Weise wiederholen sollten, im Roman aus der Verantwortung zu ziehen. Dieser Kunstgriff diente ihm auch dazu, der Geschichte mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen und es dem Publikum zu ermöglichen, ohne Vorbehalte darin einzutauchen. 

Eintauchen ist ein großes Wort, das sowohl Benetzen als auch Durchdringen impliziert: zwei bedingungslose und unmittelbare Erfahrungen. Wasser in Form von Tropfen, die vom Himmel fallen, ist das Motiv einiger absolut wahrer Geschichten, die euch im Folgenden erwarten. Die Begebenheiten können erprobt und gelebt werden, indem man den diversen Erzählspuren folgt, die Orte besucht und sich vorstellt, wie sie von den Protagonist*innen beseelt werden. Die folgenden Zeilen sind Zeugnisse von tatsächlichen Geschehnissen: vor mehr oder weniger kurzer Weile, während regnerischer Tage, in der Übergangszeit von kalt zu warm oder umgekehrt. Es handelt sich nicht um epochale Ereignisse, sondern um Einblicke in außerordentliche Alltagssituationen – wie sie Besucher*innen während eines Aufenthalts hier passieren können oder Ansässigen, falls sie sich die Zeit dafür nehmen.
Vielleicht trennt ihr auch die folgenden mit Worten und Zeichnungen gefüllten Seiten heraus und steckt sie euch zusammengefaltet in die Taschen eures Regenmantels. Eventuell könntet ihr sie auch wie Rad- oder Kanufahrer*innen in eine durchsichtige Plastikfolie stecken. Papier und Tinte halten es auf alle Fälle aus, die Buchstaben werden weder ausbleichen noch verschmieren, und vielleicht habt ihr Spaß daran, einen Wettkampf gegen die Zeit anzutreten und diese Zeilen zu lesen, bevor das Blatt, aufgeweicht vom Regen, völlig zwischen den Fingern zerrinnt …

Meran, Pulverturm
1522
Es regnet und regnet. Viel zu langsam vergeht die Zeit für Gerold und Theodor, die seit sage und schreibe zwei Stunden an der Ostwand des Pulverturms lehnen. Sie bewachen das Schießpulverlager und dieser strömende Regen gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Der eine wird so um die dreißig sein, groß und kräftig, mit Schultern, breit wie die Hüften. Wie ein Kasten steht er da, mit einem Filzhut, groß wie ein Regenschirm auf seinem Kopf. Seinen langen Bart steckt er sich immer in den Jackenkragen, sodass seine Kameraden stänkern: »Den könnte man genauso gut abschneiden, wenn man ihn eh nicht sieht.« Ihn lässt das kalt, er glaubt fest daran, dass er so – den Rat seiner Mutter als Kind befolgend – seinen Hals vor dem Wind schützt. Klein sein durfte er nur wenige Jahre, da er schon als Junge ein Mann zu sein schien ... Theodor hingegen ist in etwa um die fünfzig, sieht aus wie ein altes Kind mit Falten ohne Bart, abgesehen von ein paar wirren Haaren am Kinn. Er spricht nie viel und ist trotz seiner geringen Größe ein unmöglicher Raufbold, der sein Messer locker stecken hat. Sonst gibt es über ihn wenig zu erzählen, weil er nicht gerade gesprächig ist und weil man besser nicht erst versucht, ihn zu durchschauen. Sie blicken auf den Horizont Richtung Bozen, folgen mit den Augen den Wolken und versuchen, jeder mit seiner Vorstellungskraft, außergewöhnliche Figuren darin zu erkennen: Drachen, Ritter, Wale, gebratene Schweinsstelzen.

Plötzlich springt Theodor abrupt von der Wand weg, windet sich wie besessen und schreit: »Mein Rücken! Mein Rücken!« Gerold versteht sofort, dass irgend etwas hineingeschlüpft sein muss – vielleicht die Eidechse, die bis vorhin noch reglos über ihren Köpfen zwischen den Turmsteinen lag. Theodor fordert ihn auf, ihm zu helfen, Gerold kommt dem nach. Theodor spürt die Eidechse inzwischen am Bein, sie lugt aus dem Hosenbein hervor. Genau in diesem Moment beugt Gerold den Kopf, um den Hals seines Kameraden zu begutachten. Da schwappt eine ordentliche Ladung Regenwasser aus seinem Hut zwischen Theodors Nacken und Jacke. Ganz blau vor Wut dreht sich Theodor um und noch bevor das raufwütige, erwachsene Kind das Messer zücken kann, verpasst Gerold ihm einen Schlag ins Gesicht und streckt ihn nieder, denn Gerold ist ein vorausschauender Mann. »Hoi, ihr da drinnen, helft mir! Der Alte ist ohnmächtig«, ruft der Hüne, in der Hoffnung, dass sein Kamerad sich nicht mehr daran erinnern mag, was geschehen ist.
Geschichten von Menschen und Orten in Meran und Umgebung
Algunder Waalweg
Vorgestern Nieselregen, Sonne und milde Temperaturen, Regenschirm, falls es zu schütten beginnen sollte: Ich nahm Kira und stieg am Meraner Bahnhof in den 213er Bus nach Töll, wo der Algunder Waalweg startet. Den ersten Abschnitt, ungefähr bis zum kurzen Tunnel, legten wir im Laufschritt zurück: Sie zog wie verrückt an der Leine. Es kümmerte sie wenig, dass ich die Aussicht auf das Etschtal genießen, dem schräg durch die Wolken einfallenden Licht sowie dem Regenbogen in der Ferne folgen wollte. Unsere Jagd, beziehungsweise meine, endete mit einem Stolperer: Abgelenkt vom improvisierten Verkaufsstand für Pflanzen einiger Kinder am Wegesrand übersah ich eine abstehende Wurzel und landete kopfüber am Boden. Passiert war mir nichts, nein, aber während des Sturzes fiel mir die Leine aus der Hand und Kira blieb nicht etwa solidarisch stehen, sondern haute ab. Der Gedanke, dass sie sich verirren oder etwas anstellen könnte, half mir sofort wieder auf die Beine, und ich rannte los, um sie einzufangen. Ich fand sie einige hundert Meter weiter: Skurrilerweise hatte sich die Schnalle ihres Halsbandes in den Verzweigungen eines knorrigen, verdrehten, hohlen Baumes verfangen. Ein auffallend außergewöhnlicher Stamm – wer weiß, wie alt – mit ebenso knorrigen, gewundenen Ästen und Zweigen. Wie von magischer Hand geführt, schien das Holz sich tanzend in sich selbst zu verschrauben – wirklich kurios, wie ein Baum eine total gegensätzliche Gestalt, nämlich die des Feuers, annehmen kann.

Geborgen im naturgeformten Baum, liebkost vom sanften Prasseln der Regenfäden, schreckte ich von der an meinen Füßen vorbeigleitenden Leine auf. Kira hatte sich von selbst befreit und ihre Flucht wieder aufgenommen. Überdrüssig einer erneuten Jagd setzte ich meinen Weg langsamen Schrittes fort, ohne mich um die nunmehr schweren, grollenden Wolken über meinem Kopf zu kümmern. Ich wusste, dass Kira wusste, dass ich Leckerlis für sie in meiner Tasche hatte. Kurz vor Ende des Waalweges lief sie mir mit hängender Zunge entgegen. Ich bilde mir nicht ein, intelligenter als mein Hund zu sein, aber ich dachte, einen raffinierteren Sinn für die Verwaltung von Ressourcen zu haben. Diese Genugtuung hielt so lange an, bis mir im strömenden Regen stehend bewusst wurde, dass mich der Bub, der mir vorhin in Töll vom Busfenster aus mit dem Regenschirm zu drohen schien, nur darauf hinweisen wollte, dass ich auf dem Sitz wohl etwas vergessen hatte.

Hafling, Weg 2A
Im Sommer

Nach Verlassen des Parkplatzes in Hafling nehmen wir den Weg 2A. Absichtlich haben wir nicht gefrühstückt, um mit möglichst großem Hunger auf der Wurzer Alm anzukommen. Sobald die Straße nach der Lacke zum Steig wird und in den Wald führt, glauben wir aus der Ferne ein Murmeln zu vernehmen. Noch während wir weitergehen, verwandelt sich das Murmeln in eine Stimme, zunächst undeutlich, dann immer klarer. Es kommt aus einem Telefon hinter einem Stein: »Die Lieferung wurde falsch zugestellt, unser Fehler, nicht Ihrer, das verstehe ich und möchte mich nochmals entschuldigen. Ich weiß, dass Sie sich immer sehr geduldig gezeigt haben ...«, sagt eine Stimme mit unendlicher Ausdauer auf der anderen Seite des Mikrofons. »Die Menge, die wir letztes Jahr bestellt hatten, reicht nicht und die Pakete sollten 12 und nicht 10 Stück enthalten...« Bei genauerem Hinhören klang sie ärgerlich, mit markantem Akzent bei den Rs und Ls, als wären sie doppelt, und laut Display sprach sie seit mehr als einer Stunde. Ganz fasziniert von dieser Kakophonie, kommen wir erst zu uns, als plötzlich vor uns ein Typ erscheint, das Telefon in die Hand nimmt, uns anschaut und meint: »Ich hätte es noch liegen gelassen, aber es sieht nach Regen aus, deshalb ist es wohl besser, talwärts zu gehen.« – Keine Ahnung, ob wir diesem Spaßvogel trauen sollen. Deshalb beschließen wir doch weiterzugehen. Der Zauber der Alm unter verregnetem Himmel entschädigt dann all die Müh.

Das St.-Hippolyt-Kirchlein in Naraun bei Tisens
Heute Nachmittag

Sie blicken sich an. Sie lächeln sich zu. Sie breiten die Arme aus und umarmen sich. Sie küssen sich nicht, aber es scheint, als würden sie sich zwischen Ohr und Hals beschnuppern. Noch näher, Stirn an Stirn, blicken sie sich wieder an. Endlich küssen sie sich vielleicht, doch Annas Blick schweift weiter, aus Diskretion und auch, weil sie ein Ziel hat – nämlich schneller als die beiden, die mitten auf dem Weg miteinander turteln, an einer ganz bestimmten Stelle auf der Wiese rund um das St.-Hippolyt-Kirchlein zu sein: ein Aussichtspunkt auf das Tal und Hafling. Von hier ist an Nachmittagen, an denen sich die Sonne nach einem Regen ihren Platz am Himmel wieder zurückerobert, oft ein Regenbogen zu bewundern. Vielleicht ist heute ein guter Tag, und auch wenn die Füße feucht und kalt sind, weil Sandalen vielleicht doch nicht das richtige Schuhwerk sind, möchte sie dieses Schauspiel nicht versäumen. Eigentlich ist der Regenbogen ein Vorwand. Sie hat sich vielmehr ein Ritual geschaffen, das sie Frühling für Frühling wiederholt, um, wie sie sagt, eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen. Der Hügel von St. Hippolyt wurde schon vor sechstausend Jahren besucht, es war ein Kultplatz. In der Romanik wurde hier eine kleine Kirche errichtet, wiederaufgebaut in der Gotik. Im Mittelalter versammelten sich hier angeblich Hexen für die Walpurgisnacht. Man sagt, dies sei ein Kraftplatz, mit Sicherheit ein Ort, der viel zu erzählen hat. Anna schaut von oben in die Tiefe, sucht den Regenbogen. Dann setzt sie sich auf einen immer noch etwas feuchten Stein, schließt die Augen und atmet tief ein. Sie hört in sich hinein und für einen Moment sind keine Gedanken in ihrem Kopf. Gelächter holt sie in die Gegenwart zurück – die beiden von vorhin. Sie freut sich mit ihnen, so als wäre es ihr Glück, und fühlt sich wunderbar mit dem Jetzt verbunden.

(Story aus dem Gästemagazin Merano Magazin 1/2024)